Mittwoch, 2. Dezember 2009
Todes-Erfahrung
Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Hass
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund

tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.

Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.

Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes
hersagend und Gebärden dann und wann
aufhebend; aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann

uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so dass wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.


Rainer Maria Rilke, 24.1.1907, Capri

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Die Wirklichkeit ist abhanden gekommen...
...Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
..

Das ist genau das, was der Tod auslöst: wir werden an die Wirklichkeit erinnert. In dieser virtuellen und von Medien überfluteten Welt ist die Wirklichkeit abhanden gekommen. Sie ist einfach nicht mehr existent.

Der Tod reißt uns jäh aus allem Schein heraus. Damit hat er eine neue Funktion bekommen. Früher hat er nur an die Endlichkeit des Seins erinnert. Heute erinnert er uns auch an die Wirklichkeit.

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