Montag, 13. Oktober 2008
Requiem für eine Turmspringerin
Der Ohlsdorfer Friedhof. Dort lag meine Urgroßmutter und dort liegt meine Grundschullehrerin. Dort liegt auch Monika, die sich aus dem 18. Stock eines Hochhauses (genannt der Turm) stürzte und sich vorher lachend von uns verabschiedete. Einige Minuten vor ihrer Beerdigung stürzten Tsunami-ähnliche Wassermassen vom Himmel, der sich fast tiefschwarz gefärbt hatte. Hat Gott denen gezürnt, die sie einfach so haben gehen lassen?.....

Wenn man gewollt hätte, hätte man es spüren können. Als ich einmal in Dein Zimmer kam, saßt Du mit Tränen in den Augen vor Deinem Tagebuch. Auf Deiner Beerdigung zitierte der Pastor aus diesem Tagebuch: "Gott wird mir verzeihen. Gott muß mir verzeihen".

Mit Sicherheit wird Gott einer verzweifelten Seele wie Dir verziehen haben. Uns aber nicht. Und das ist auch richtig so. Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer ist die unmenschlichste aller Taten. Schlimmer als Mord, schlimmer als alles andere.

Menschen, die die Hand nicht sehen, die nach ihrer greift, sind keine Menschen. Es sind nur noch Automaten. Es sind Menschen, die Geld streicheln und die noch nicht einmal das Rückgrat haben, zu ihrer Gleichgültigkeit zu stehen. Stattdessen dozieren sie über die Grundgesetzte und über die Freiheit des Menschen und über den großen Respekt, den sie vor ihr haben.

Aber ich will nicht über diese Menschen richten. Denn ich habe Dich springen lassen. Und ich kann dies noch nicht einmal mit der Blindheit der Geldstreichler und der Paragraphenzitierer entschuldigen. Ich muß jetzt büßen und ich möchte auch büßen. Ich will mich nicht dafür drücken. Aus Respekt vor Dir.

Ich hatte immer das Gefühl, daß alles noch einmal ein Nachspiel haben wird. Das hat es jetzt.

Ach Monika, Turmspringerin. Du hattest gar nicht vor, Dich zu töten, denn Du hattest irgendeinen Termin in der Stadt und wolltest außerdem für jemanden Schuhe zum Schuster bringen. Dann muß Dir der Wunsch nach dem Tod in die Quere gekommen sein. Die Schuhe hast Du übrigens vor Deinem Sprung nicht einfach liegenlassen. Du hast säuberlich auf einem Zettel geschrieben, wem die Schuhe gehören. Im Angesicht des Todes hast Du Dir Sorgen gemacht, daß jemand seine Schuhe nicht mehr zurückerhält.

Turmspringerin, wie kann man vor der Exekution noch an so etwas Banales denken? Das ist aber wohl das, was Menschen wie Dich von anderen unterscheidet. Ein Geldstreichler oder ein Paragraphenzitierer hätte dies nicht gemacht. Das machen nur Turmspringer.

Was mag es wohl gewesen sein, daß plötzlich Deinen Todeswunsch ausgelöst hat? War es einfach eine Erinnerung oder hast Du etwas gesehen, was Dir das Leben unerträglich gemacht hat?

Die Paragraphenzitierer und die Geldstreichler erwidern ungeduldig, daß es schließlich Dein freier Wille war. Beide wissen nichts von einer widersprüchlichen Seele. Wie gern Du gelacht hast. Wie gern Du noch Bauchtanz lernen wolltest (Du hast immer um einen Termin gedrängelt). Du hast auch gern gegessen und gekocht. Und Du hast Kunst und Literatur geliebt. Die Paragraphenreiter und Geldstreichler möchten das Thema schnell abschließen - Zeit ist Geld.

Ich nehme jetzt die Strafe auf mich. Obwohl ich Dich für Momente vor mir gesehen habe und Du hast den Kopf geschüttelt. Du bist kein Rachetyp. Rachetypen springen nicht von einem Hochhaus. Rachetypen steuern ein Flugzeug hinein.

Wenn Du das mitmachst, was ich jetzt mitmache, dann war es ein großes Verbrechen, Dir nicht zu helfen. Wir haben uns taub und blind gestellt. Ich hätte mich um Deinen "freien Willen" einen Dreck geschert, wenn ich es doch nur mitbekommen hätte. Ich hätte Dich festgehalten und statt Deiner die Schuhe runtergeworfen. Freiheit existiert nur dort, wo es eine Wahl gibt. Und die hattest Du nicht, weil Du die anderen Möglichkeiten nicht mehr sehen konntest.

Turmspringern, Du willst mir etwas sagen. Ich will es nicht hören. Ich kann es nicht hören, aus meinen Ohren blutet es.

Hier sind keine Menschen mehr. Nur noch Kobolde und Roboter. Das ist die Gesellschaft in die ich gehöre.

https://youtu.be/Qo3z5g335rY?list=PL34E19BB1EFD53B05

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Freitag, 7. März 2008
Affectus desinit esse passio
Ein Freitod kann einen tieferen Sinn haben, wenn durch ihn das Leben wieder authentisch wird. Wenn der Tod als eine authentische Handlung das Leben wieder vervollkommnet. Wenn mit ihm das Existenzielle eines Lebens ausgesagt werden kann und ein halbes Leben wieder ganz wird.

Ich lehne die Gotteskrieger, die Märthyrer der Religionen und der Ideologien vollständig ab. Dennoch kommt man nicht umhin, sich nach dem "Warum" zu fragen. Vielleicht ist einem extrem gläubigen Menschen der in seinem Leben verwirklichte Glauben zu wenig, nur eine halbe Sache. Wenn ich an die Buddhisten denke, die sich für ihren Glauben verbrannt haben, dann ist deren Tod kein Opfer, sondern der Vollzug des Glaubens. Vielleicht waren sie dabei nicht resigniert sondern glücklich. Dietrich Bonhöfer und andere Christen, die ihren Tod zu einem Teil ihres Glaubens gemacht haben, werden vielleicht die Minuten vor ihrem Tod nicht nur Angst und Verzweiflung gespürt haben, sondern auch ein anderes Gefühl - das Gefühl der Hingabe an eine Sache, der Verschmelzung mit etwas Höherem.

Aber auch manche derjenigen, die sich nicht aus einem religiösen Grund das Leben genommen haben, sind vielleicht nicht ausschließlich in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in den Tod gegangen. Vielleicht war der Tod ihr Lebenswerk oder zumindest Teil ihres Lebenswerks. Vielleicht ist es eine Aufrichtigkeit des Gefühls, ein Ausleben-wollen der eigenen Werte. Keine Kapitulation sondern im Gegenteil ein Sieg der Hingabe an sich selbst. Ganz sein wollen - Vereinigung.

Für Materialisten ist es völlig unsinnig etwas zu tun, was den Tod beinhaltet, da sie den Tod vollständig ausblenden, er existiert nur als biologische Gegebenheit. Ich glaube aber nicht, daß Psychoanalyse & Co das Phänomen des Freitods völlig verstehen können, weil sie den Menschen in seinem Sein niemals ganz erfassen. So wie Blaise Pascal formuliert, daß der Mensch zwar unendlich ist, aber selbst nicht in der Lage, das Unendliche zu erkennen. Der Mensch ist in seiner Erkenntnis gefangen in den Vorstellungen von Raum und Zeit und kann sich auch nur innerhalb dieser eng gesetzten Grenzen gedanklich bewegen.

Diese Gedanken haben nichts, aber auch gar nichts mit dem "Spring doch" einer geifernden Masse gemeinsam, die dumpf und grobschlächtig einen Selbstmörder anfeuern. Ich selbst würde (und habe!) jeden an einem Selbstmord hindern, auch wenn das in Zusammenhang mit meinen Gedanken auf den ersten Blick unlogisch erscheint. Sollte es das oft postulierte Recht auf Selbstmord geben, dann gibt es auch das Recht auf Verhinderung eines Selbstmordes.

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