Mittwoch, 2. Dezember 2009
Todes-Erfahrung
Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Hass
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund

tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.

Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.

Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes
hersagend und Gebärden dann und wann
aufhebend; aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann

uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so dass wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.


Rainer Maria Rilke, 24.1.1907, Capri

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Mittwoch, 4. November 2009
Nach uns die Sintflut
Man weigert sich,
solange man im jugendlichen Drang
den wechselvollen Alltag genießt,
in den Greisen das eigene Schicksal zu sehen.


Simone de Beauvoir (1908-1986)


Das gelingt mir immer schlechter, da es einen Teil meiner Arbeit ausmacht, in Altenheime zu gehen. Ich habe auf erschreckende Weise dadurch immer vor Augen, wie es endet. Und es endet immer seltener gut...

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Es gibt übrigigens auch andere Töne:

Nimm die Erfahrung und die Urteilskraft der Menschen über 50 heraus aus der Welt, und es wird nicht genug übrig bleiben, um ihren Bestand zu sichern.
Henry Ford (1863-1947)

Frage mich, ob das wirklich so ist. Vielleicht war es mal so. Aber schon seit langem kann man sich Erfahrungen einfach aus dem Netz runterladen. Und schon vor den Zeiten des Internet konnte man Bücher lesen um sich Erfahrungen theoretisch anzueignen.

Auf junge Menschen kann man genauso wenig verzichten, weil die Kraft der Veränderung von der Jugend ausgeht. Allerdings habe ich da jetzt manchmal Zweifel, wenn ich mir die Jugend so angucke, die ja noch viel angepaßter und desinteressierter als die eigenen Eltern ist. Da ist plötzlich etwas passiert, was Jahrhunderte lang eigentlich anders war - Jugend, die aufmüpfig und Gerechtigkeit fordernd war. Wo ist die hin?

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Samstag, 8. August 2009
Die Gespenster der Kindheit


Die Gespenster der Kindheit sind unsterblich.
Manchmal sind sie lange Zeit still und reglos.
Aber da sind sie immer.

Verstecken sich unter dem Bett.
Oder unter der Tapete.
Manchmal sogar im Wasserhahn.

Die Gespenster der Kindheit tauchen unerwartet und plötzlich wieder auf.
Springen einem ins Gesicht.
Reißen an den Haaren.
Kratzen und spucken.

Sie können hager und knochig sein
oder auch feist und fett.
Riesig groß wie Müllberge
oder klein wie Ungeziefer.
Aber häßlich sind sie immer.

Die Gespenster der Kindheit halten die Vergangenheit am Leben.
Und drücken der Gegenwart die Luft ab.

Vergiften noch das kleinste bißchen Glück der Gegenwart.
Sie geben nie auf.
Und immer sind sie stärker.

Sie sind unsterblich.
Die Gespenster der Kindheit.

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