Dienstag, 11. März 2008
Die Lüge von der immer schönen Kindheit
lilith2, 01:52h
Du hast so große Augen Kind.
Du siehst gewiss oft nachts Gestalten,
die, fremd und bleich, in marmorkalten
Traumhänden rote Kronen halten,
um die ein Leuchten leise rinnt.
Dann ist dein Blick am Tag wie blind
und deine Seele wie zerspalten,
dann bangt dir vor dem Alltagsalten,
wenn Wünsche sich in dir entfalten,
die allen andern Wahnsinn sind.
Dann ist die Sehnsucht dir erwacht,
stolz zu entfliehen den eitlen Schreiern,
die plump, mit Händen, blöde und bleiern,
auf deiner Silberseele leiern
das irre Lied, das sterblich macht;
zu fliehn in eine blaue Nacht,
drin alle Wipfel lauschend feiern;
der Glieder Hymne zu entschleiern
und scheu im Schoß von weißen Weihern
zu finden ihre nackte Pracht.
Rainer Maria Rilke (1875- 1926)
Du siehst gewiss oft nachts Gestalten,
die, fremd und bleich, in marmorkalten
Traumhänden rote Kronen halten,
um die ein Leuchten leise rinnt.
Dann ist dein Blick am Tag wie blind
und deine Seele wie zerspalten,
dann bangt dir vor dem Alltagsalten,
wenn Wünsche sich in dir entfalten,
die allen andern Wahnsinn sind.
Dann ist die Sehnsucht dir erwacht,
stolz zu entfliehen den eitlen Schreiern,
die plump, mit Händen, blöde und bleiern,
auf deiner Silberseele leiern
das irre Lied, das sterblich macht;
zu fliehn in eine blaue Nacht,
drin alle Wipfel lauschend feiern;
der Glieder Hymne zu entschleiern
und scheu im Schoß von weißen Weihern
zu finden ihre nackte Pracht.
Rainer Maria Rilke (1875- 1926)
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lilith2,
Dienstag, 11. März 2008, 02:14
Kindheit ist nicht immer schön
Rilke ist einer der wenigen, die mit dem Tabu brechen, die Kindheit immer nur als Hort des Glücks zu schildern. Er widment dies Gedicht nicht den Kindern, er widmet dies Gedicht der Kindheit, also auch oder gerade den Erwachsenen.
Rilke hat einmal den Ausdruck "der Kindheit übergroßes Leiden" benutzt. Und wenn er von den großen Augen schreibt, dann sehe ich die großen Augen, die ich als kleines Mädchen hatte. Und ich sehe die nächtlichen Gestalten, die in meinem Fall ganz reale Gestalten waren. Jede Nacht das Geschrei meines Vaters, der meine Mutter als Bauernmagd beschimpft und wie eine tibetische Gebetsmühle unermüdlich immer wieder und wieder meine Mutter als dumm und dreckig bepöbelt.
Ich sehe, wie er den Kopf meiner älteren Schwester gegen die Wand schlägt und höre ihre Hilfeschreie. Und wie er sie dann an den Haaren die Treppe hochschleift. Und dann ihre Kleidung verbrennt. Und wie er immer wieder brüllt, sie sei dumm und häßlich.
Ich sehe, wie mein Vater die ganze Wohnung verwüstet. Eine ganze, lange lange Nacht lang. Wie er alles zerschlägt. Und wie ich irgendwann zu ihm gehe und er mir ein Beil vors Gesicht hält und sagt, daß er meine Mutter zerhacken wird.
Ich sehe meinen Onkel und meine Tante, die meiner Schwester und mir die härtesten Vorwürfe machen, weil wir meinen "armen Vater" allein lassen. Aber meine Mutter sehe ich irgendwann gar nicht mehr - meine Mutter hat sich einfach aus dem Staub gemacht.
Ich bin gern zur Schule gegangen, dort herrschte Frieden und dort wurde ich gut behandelt, sowohl von den Lehrern als auch von den anderen Schülern. Schule war Erholung von den Beschimpfungen und der Angst, die zuhause herrschten. In der Schule herrschte gegenseitiger Respekt.
Ja, genau wie Rilke es schildert, ist die Seele eines leidenden Kindes wie zerspalten. Und die Wünsche, die sich in so einer Kinderseele bilden, sind für andere nicht mehr nachvollziehbar sondern nur Wahnsinn.
Am treffendsten ist jedoch Rilkes Formulierung der Sehnsucht nach Entfliehen. Stolz zu entfliehen in eine schöne Welt, in eine phantastische Welt - eben in eine blaue Nacht mit feiernden, lauschenden Gipfeln und weißen Weihern. Nur diese Hoffnung hat mich die Kindheit überleben lassen.
Rilke hat einmal den Ausdruck "der Kindheit übergroßes Leiden" benutzt. Und wenn er von den großen Augen schreibt, dann sehe ich die großen Augen, die ich als kleines Mädchen hatte. Und ich sehe die nächtlichen Gestalten, die in meinem Fall ganz reale Gestalten waren. Jede Nacht das Geschrei meines Vaters, der meine Mutter als Bauernmagd beschimpft und wie eine tibetische Gebetsmühle unermüdlich immer wieder und wieder meine Mutter als dumm und dreckig bepöbelt.
Ich sehe, wie er den Kopf meiner älteren Schwester gegen die Wand schlägt und höre ihre Hilfeschreie. Und wie er sie dann an den Haaren die Treppe hochschleift. Und dann ihre Kleidung verbrennt. Und wie er immer wieder brüllt, sie sei dumm und häßlich.
Ich sehe, wie mein Vater die ganze Wohnung verwüstet. Eine ganze, lange lange Nacht lang. Wie er alles zerschlägt. Und wie ich irgendwann zu ihm gehe und er mir ein Beil vors Gesicht hält und sagt, daß er meine Mutter zerhacken wird.
Ich sehe meinen Onkel und meine Tante, die meiner Schwester und mir die härtesten Vorwürfe machen, weil wir meinen "armen Vater" allein lassen. Aber meine Mutter sehe ich irgendwann gar nicht mehr - meine Mutter hat sich einfach aus dem Staub gemacht.
Ich bin gern zur Schule gegangen, dort herrschte Frieden und dort wurde ich gut behandelt, sowohl von den Lehrern als auch von den anderen Schülern. Schule war Erholung von den Beschimpfungen und der Angst, die zuhause herrschten. In der Schule herrschte gegenseitiger Respekt.
Ja, genau wie Rilke es schildert, ist die Seele eines leidenden Kindes wie zerspalten. Und die Wünsche, die sich in so einer Kinderseele bilden, sind für andere nicht mehr nachvollziehbar sondern nur Wahnsinn.
Am treffendsten ist jedoch Rilkes Formulierung der Sehnsucht nach Entfliehen. Stolz zu entfliehen in eine schöne Welt, in eine phantastische Welt - eben in eine blaue Nacht mit feiernden, lauschenden Gipfeln und weißen Weihern. Nur diese Hoffnung hat mich die Kindheit überleben lassen.
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